Eigenschaften moderner NiTi-Feilen
Herr Prof. Gambarini, welchen Einfluss haben moderne Technologien auf den Bereich der Endodontie?
Die Technologien in der Zahnmedizin – und so auch in der Endodontie – haben sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich weiterentwickelt. Moderne „Werkzeuge“ verbessern beispielsweise die endodontische Diagnose und Behandlung. In den 2000er Jahren war die Mikroskopie der „Game Changer“ in der Endodontie.
Im Jahrzehnt danach hat die dreidimensionale Bildgebung als Ergänzung zum konventionellen Röntgen diese Rolle übernommen. Die digitale Volumentomografie (DVT) hat sich als klinisch sinnvoll erwiesen. Sie ermöglichte eine verbesserte Diagnose und Behandlungsplanung (besonders in den schwierigsten Fällen). Zudem optimiert die dreidimensionale Visualisierung der klinischen Situation das Verständnis für die anatomische Komplexität von Wurzelkanälen. Darüber hinaus liefert die DVT grundlegende Informationen für die „geführte“ Endodontie. Statische Führungen und dynamische Navigation erweisen sich beispielsweise als effektiv bei der Behandlung von verkalkten Kanälen und als hilfreich bei konservativeren Zugangskavitäten; sowohl in der nicht chirurgischen als auch in der chirurgischen Endodontie.
Zudem haben im vergangenen Jahrzehnt zwei weitere neue Fertigungstechnologien die Wurzelkanalinstrumente und Obturation verändert: die Wärmebehandlung von rotierenden Nickel-Titan-Instrumenten und die Einführung neuer biokeramischer endodontischer Versiegelungen. Beide Verfahren erhöhen die Sicherheit und vereinfachen das Vorgehen.
Wie wichtig ist das klinische Verständnis der Anatomie des Wurzelkanals?
Die Endodontie war fast 100 Jahre lang ein „zweidimensionales“ Fachgebiet. Konventionelle 2D-Röntgenbilder erlauben aufgrund der bukkal-lingualen Richtung der Röntgenaufnahmen und der Überlagerung verschiedener Strukturen nur teilweise die Visualisierung der Wurzelkanalgeometrien.
Mit der DVT (und idealerweise einer speziellen Software für die 3D-Darstellung) stellt sich dem Endodontologen die echte Anatomie (dreidimensional, räumlich) einer Zahnwurzel dar – einschließlich versteckter Krümmungen, Einmündungen, Verkalkungen usw. Dies ist ein großer Vorteil für die Diagnose und Behandlungsplanung. So können durch die dreidimensionale Bildgebung iatrogene Fehler während der Instrumentierung reduziert werden.
Versteckte Krümmungen (erhöhte Instrumentierungsbelastung) können, wenn sie nicht richtig erkannt werden, leicht zu einer intrakanalaren Separation führen. Seit mehr als 25 Jahren fürchten Endodontologen den plötzlichen, unerwarteten Bruch von rotierenden Nickel-Titan-Instrumenten.
Heute können wir sagen, dass die Mehrheit dieser Misserfolge auf ein unzureichendes Verständnis der Wurzelkanal-Anatomie und folglich auf eine unsachgemäße Auswahl und Verwendung der Instrumente zurückzuführen ist. Das klinische Verständnis der Anatomie in drei Dimensionen – gemeinhin als „3D-Endodontie“ definiert – ist ein Durchbruch in der klinischen Herangehensweise und führt zu einer sicheren und vereinfachten Instrumentierung. In der chirurgischen Endodontie ermöglicht das 3D-Verfahren ein weniger invasives Vorgehen und reduziert iatrogene Fehler.
Inwiefern diktiert die Anatomie des Wurzelkanals die verbesserten Eigenschaften von NiTi-Feilen?
Dreidimensionale Analysen von Wurzelkanal-Trajektorien und Formen zeigen deutlich, dass Wurzelkanäle sehr viel komplexer sind, als in der 2D-Ansicht erkennbar. Auf dieser Komplexität beruhen die Eigenschaften der NiTi-Feilen, die Folgendes ermöglichen:
- mehr Flexibilität, um Krümmungen richtig zu erfassen und iatrogene Fehler zu vermeiden;
- mehr mechanische Festigkeit, um intrakanale Feilenbrüche zu verhindern;
- Anpassungen im Design während der klinischen Anwendung, um die Leistung in ovalen Kanälen zu erhöhen (können dreidimensional besser visualisiert werden).
Hierdurch verbessern sich das Reinigen des Kanals sowie das Entfernen von Debris. Die Reinigung hängt natürlich mit der korrekten Anwendung der jeweiligen Spültechnik zusammen, aber auch die Instrumente spielen eine wichtige Rolle. Gerade wenn es darum geht, Debris richtig zu entfernen, die Lösungen zu dispergieren und den Biofilm zu unterbrechen, sind die Instrumente ausschlaggebend.
Die Verbesserung von NiTi-Feilen beruht hauptsächlich auf drei verschiedenen Faktoren:
- verbessertes Design der Feilen, was in den ersten 20 Jahren nach der Einführung von NiTi das Hauptkriterium war;
- Optimierung der Motoren, um die Bewegungen weniger belastend zu machen als bei einer kontinuierlichen Rotation;
- verbesserte Legierungen und Herstellungsprozesse (inkl. der Wärmebehandlung). Gerade die Wärmebehandlung ist aktuell zum wichtigsten Merkmal geworden, um die Flexibilität und Bruchfestigkeit der NiTi-Feilen deutlich zu steigern.
Austenit und Martensit – was ist der klinische Unterschied zwischen austenitischen und martensitischen Feilen?
Anfangs waren alle NiTi-Instrumente superelastische austenitische Feilen. Die überlegenen Eigenschaften der Legierung im Vergleich zu traditionellem rostfreiem Stahl wurden als großer Vorteil angesehen und erlaubten die klinische Verwendung von Feilen mit größeren Konizitäten in kontinuierlicher Rotation. Die Vergrößerung der Instrumentendimensionen und die durch die Bewegung induzierte höhere Belastung führten jedoch zu starren Instrumenten, die das Risiko eines Versagens erhöhten; insbesondere bei komplexen Krümmungen und größeren Konizitäten.
NiTi ist eine „empfindliche“ Legierung, die auf Hitze stark reagiert. Während des Herstellungsprozesses wird die Legierung äußerlich und innerlich geschwächt. Externe Defekte können teilweise durch das Elektropolieren ausgeglichen werden. Interne Defekte lassen sich zum Teil durch spezifische Wärmebehandlungen nach dem Herstellungsprozess beseitigen. Grundsätzlich variieren die Wärmebehandlungsmethoden je nach Hersteller. Im Allgemeinen können alle Wärmebehandlungen die Flexibilität und Bruchfestigkeit bis zu einem gewissen Grad verbessern. Doch es gibt große Unterschiede in der Art und Weise, wie das thermische Verfahren vorgenommen wird.
Die Wärmebehandlung ist aktuell die vielleicht wichtigste Verfahrenstechnik, um den Instrumenten bessere mechanische Eigenschaften zu verleihen. Hierfür haben einige Unternehmen, wie z. B. EdgeEndo, viel Ressourcen in die Forschung investiert. Zum Beispiel könnten Änderungen im Design die Flexibilität und Widerstandsfähigkeit der Feile um 20 bis 30 % erhöhen.
In unserer Forschung hat sich gezeigt, dass die FireWire-Wärmebehandlung von EdgeEndo die Flexibilität um bis zu drei Mal (300 %) und die Ermüdungsfestigkeit sogar noch mehr erhöht. Diese neuen wärmebehandelten Feilen weisen verschiedene Memory-Effekte auf und werden daher als martensitische NiTi-Feilen definiert. Feilen mit dieser Eigenschaft, können bei Bedarf vorgebogen werden und erzeugen weniger Rückprall. Dies vereinfacht die Behandlung deutlich.Die Wahlfreiheit zwischen austenitischen und martensitischen Feilen (einige Hersteller bieten dieselbe Feile in beiden Versionen an, d.h. EdgeTaper und EdgeTaper Platinum) verändert die klinische Herangehensweise bzw. die Instrumentierung. Je nach Indikation wird einfach die passende Feile gewählt.
Ist „minimalinvasiv“ der aktuelle Trend in der Endodontie?
Minimalinvasiv ist ein Trend, da wir wissen, dass jede endodontische Behandlung (bis zu einem gewissen Grad) einen Zahn schwächen kann. Bei der Behandlung komplexer Wurzelkanäle sollten wir immer einen gewissen Kompromiss eingehen. Wir agieren zwischen dem Anspruch, konservativ zu behandeln, und dem Risiko einer unzureichenden Gestaltung der Zugangskavität (minimalinvasive koronale Aufweitung). Dies kann unter Umständen zu Interferenzen und iatrogenen Fehlern führen. Daher bevorzuge ich den Begriff „rationelle invasive Endodontie“.
Da wir die apikale Krümmung einer Zahnwurzel nicht modifizieren können, gibt es nur eine einzige Möglichkeit, die Wirksamkeit und Sicherheit zu verbessern (vorausgesetzt, wir verwenden flexible und widerstandsfähige martensitische Feilen mit den richtigen Bewegungen): die koronale und mittlere Krümmung muss leicht modifiziert und so die Gesamtbelastung der Instrumente reduziert werden.
Wie invasiv ein Formgebungsverfahren sein kann, hängt von den anatomischen Gegebenheiten ab: Je einfacher die Kanalgeometrie, desto geringer die koronale Aufweitung; ggf. reicht ein kleiner Zugang. Eine martensitische Feile ist für diesen Ansatz besser geeignet, da sie vorgebogen werden kann und durch den geringeren Rückprall den Einfluss von Interferenzen reduziert.
Bei komplexen Kanalgeometrien ist die Strategie umgekehrt. Hier müssen wir die Instrumentenbelastung reduzieren, da aufgrund der Anatomie bereits eine hohe Belastung vorhanden ist.
Das 3D-Verständnis der Wurzelkanal-Anatomie ist also entscheidend, da hieraus die Notwendigkeit verschiedener Strategien resultiert. Basierend darauf können wir entscheiden, ob ein weniger invasiver Ansatz möglich ist.
Die koronale Aufweitung muss „selektiv“ erfolgen, um eine unnötige Vergrößerung der Kanäle und Reduzierung des zervikalen Dentins zu vermeiden. Je nach Trajektorien bzw. Verlauf sollten die Kanäle ein- oder zweiseitig aufgeweitet werden. Eine solche rationelle invasive Vorgehensweise, die auf dem 3D-Verständnis der Anatomie basiert, ist meine bevorzugte Methode.
Was ist Ihre Meinung zu vereinfachten Techniken und der Single-File-Reziprok-Technik?
Wir sollten bei unserer Therapieentscheidung immer rational agieren. Die meisten Wurzelkanäle sind recht einfach zu behandeln. Die Hauptschwierigkeit ist die richtige Reinigung und Desinfektion, daher bin ich für vereinfachte Techniken.
Aber funktionieren diese auch bei schwierigeren Kanalgeometrien? Meiner Meinung nach ja, aber nur mit den passenden Instrumenten, Strategien und Bewegungen. Ich verwende derzeit zwei Techniken in meiner Praxis:
Die vereinfachte Technik mit nur zwei martensitischen NiTi-Rotationsfeilen (X7 17.04 und 25.04) und die Einzelfeilen-Reziprok-Technik mit EdgeOne Fire (EOF).
EOF sind martensitische NiTi-Feilen, die für eine reziproke Bewegung (30° im Uhrzeigersinn – 150° gegen den Uhrzeigersinn) ausgelegt sind. Die EOF sind sehr flexibel und ermündungsresistent aufgrund der besonderen Art der Wärmebehandlung (FireWire-Verfahren).Die Einzelfeilen-Reziprok-Technik verwende ich in der Mehrzahl der einfachen und mittelschweren Wurzelkanalgeometrien im Molarenbereich. Die Technik ist einfach, schnell und sicher durchführbar.
Die Flexibilität von EOF erlaubt es mir, die Feilen auch in mäßig gekrümmten Kanälen auf sehr sichere Art und Weise einzusetzen. Die reziproke Bewegung selbst trägt zur Reduzierung der Instrumentenbelastung bei.
Ich führe oft einen manuellen Gleitpfad bis zur Größe 15 durch. Dies mache ich jedoch nicht in allen Situationen, da in einfachen Kanälen bereits ein Gleitpfad vorhanden ist. Die EOF hat hervorragende Eigenschaften und kommt in der Regel sehr gut durch die Kanäle. Bei Bedarf kann die Schneideffizienz optimiert werden, indem die Geschwindigkeit leicht erhöht wird.
Dies ist auch nützlich, wenn ich mit der EOF bürste. Dies erhöht ihre Fähigkeit, Debris zu entfernen, was bei reziproken Techniken häufiger vorkommt. Die EOF ist ein Instrument mit größerer (variabler) Verjüngung und schafft leicht sowie schnell eine ordnungsgemäß verjüngte Präparation. Trotzdem bürste ich zusätzlich. Dadurch werden mehr Kanalwände berührt („berühren, NICHT SCHNEIDEN“) und die Reinigung sowie Desinfektion verbessert; besonders in ovalen, länglichen Kanälen.
Da ich nur ein Instrument verwende, kann ich ggf. (z. B. versteckte Krümmung) den Gleitpfad leicht erhöhen oder, was häufiger vorkommt, den Kanal etwas mehr aufweiten, bevor ich apikal vorrücke. Diese letzte Vorgehensweise bezeichne ich als „crown-down with the same instruments“.
Welche Instrumente würden Sie bei komplexen Fällen empfehlen?
In komplexen Fällen bevorzuge ich eine vereinfachte Technik mit zwei martensitischen NiTi-Rotationsfeilen: X7 17.04 und 25.04 bei einer Drehzahl von 300 bis 500 U/min, Drehmomenteinstellungen 250 bis 410 g/cm.
Aufgrund ihrer hervorragenden Eigenschaften (Flexibilität, Ermüdungsbeständigkeit, geringes Rückprallverhalten) eignen sich diese Feilen hervorragend für die Behandlung komplexer apikaler Krümmungen.
Die X7-Instrumente haben einen maximalen Nutendurchmesser von 1 mm und können als „minimalinvasive Instrumente" bezeichnet werden. Die X7-Instrumente sind in verschiedenen Größen und zwei (konstanten) Konizitäten erhältlich: .04 und .06.
Ich verwende gern die vereinfachte Technik mit einem Taper in Größe .04. Ist eine stärker verjüngte Präparation notwendig, kann ich mehr bürsten und mehr Verjüngung erzeugen. Dies ist bei einer komplexen Krümmung sicherer als das Verwenden eines Instruments mit größerer Verjüngung.
Ebenso benötige ich in den meisten Fällen weder zusätzlich einen Kavitätenöffner noch einen Gleitpfad, da die Feile in Größe 17.04 die Arbeit von beiden erledigen kann.
Bei einem manuellen Gleitpfad bis zur Größe 10 oder 15 kann die 17.04 den Kanal vergrößern und so einen besseren Gleitpfad und einen leichteren Verlauf schaffen für die formgebende Feile mit dem Taper von .04 und in Größe 25.
Muss der Kanal im koronalen und mittleren Teil mehr aufgeweitet werden, kann ich mit dieser Feile bürsten, um mögliche Interferenzen zu beseitigen (selektive Aufweitung) und mehr Platz für die formgebende Feile zu schaffen. Diese Technik verwende ich normalerweise für meinen „rationell invasiven Ansatz“. Sie ist einfach, vorhersehbar sowie leicht in der Anwendung und kann an viele verschiedene Komplexitäten angepasst werden.
Wird mehr „präparierter Raum“ für die abschließende Spültechnik benötigt, bürste ich manchmal etwas mehr, um die Penetration der Spüllösung zu erhöhen. Für die Obturation wähle ich diese Strategie nicht mehr. Die kalte biokeramische Obturation erlaubt es, weniger invasiv zu agieren. Die martensitischen X7-Feilen eignen sich hervorragend für diesen Ansatz.
Aufgrund der überlegenen mechanischen Eigenschaften müssen nur zwei Instrumente verwendet werden, ohne Kompromisse in Qualität und Sicherheit einzugehen. Ich muss nur die Anatomie der Wurzelkanalgeometrie verstehen und die richtige Strategie für jeden Fall auswählen.
Zur Person: Prof. Gianluca Gambarini
Prof. Gianluca Gambarini, MD, DDS: Vollzeit-Professor; Leiter der Endodontie und Wiederherstellung, Universität Rom, La Sapienza, Zahnmedizinische Fakultät; Direktor der Master of Endodontics in Sapienza.
Der internationale Dozent und Forscher ist Autor von mehr als 500 wissenschaftlichen Artikeln. Er war als Hauptsprecher weltweit als Dozent tätig (ca. 600 Präsentationen) auf den wichtigsten internationalen Kongressen sowie an vielen Universitäten weltweit.
Während seiner akademischen Karriere hat er viele Auszeichnungen und Anerkennungen erhalten und war verantwortlich für viele wissenschaftliche Projekte mit nationalen und internationalen Auszeichnungen. Prof. Gambarini hat seine Interessen auf endodontische Materialien und klinische Endodontie fokussiert. Er ist außerdem aktiv als Berater zur Entwicklung neuer Technologien, operativer Verfahren und Materialien zur Wurzelkanalbehandlung tätig und ist im Besitz vieler Patente bezüglich endodontischer Technologien.
Prof. Gambarini ist Vorstandsmitglied der ESE und Vorstand des Clinical Practice Committee und führt eine Privatpraxis in Rom, Italien, die sich auf Endodontie beschränkt.